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In jeglicher Hinsicht ist Indien als aufstrebendes Entwicklungsland dem Wachstumswunder China auf den Fersen – schon seit Jahren. Was das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts angeht, hat Indien mit 7,1% seinen Konkurrenten mit 6,7% schon im vergangenen Jahr überholt. Und fragt man Experten zu den Entwicklungs-Prognosen Indiens, heißt es immer wieder, der schlafende Riese sei gerade im Begriff aufzuwachen. Man solle nur an diese Millionen von Menschen denken, die sich derzeit aus der Armut in die neu entstehende Mittelschicht emporarbeiten.
Indien ist im Aufbruch, aber lange nicht so schnell, wie China es vorgemacht hat. Das sei auch ein unfairer Vergleich, heißt es dann postwendend. Immerhin habe Indien seine Entwicklung erst gut 15 Jahre später, 1991, begonnen und müsse als „größte Demokratie der Welt“ längere Entscheidungswege hinnehmen als sie im absolutistischen China üblich seien. Ohne hochwertige Rohstoffvorkommen und eine im Vergleich zur Größe der Volkswirtschaft bedeutende verarbeitende Industrie sind das Kapital Indiens seine gut 1,24 Milliarden Einwohner, im Durchschnitt 28 Jahre alt. Und jährlich kommen um die zwölf Millionen hinzu.
Anhand der Zahlen erkennt man die Diskrepanz zwischen den Potenzialen, die ohne Zweifel in dieser Volkswirtschaft schlummern, und der aktuellen Situation im Land. In den wachsenden Städten entsteht eine konsumfreudige Mittelschicht, die sowohl einheimischen als auch internationalen Unternehmen neue Profite verspricht. Die überwiegende Mehrheit der indischen Bevölkerung aber lebt in ländlichen Gebieten und ist dadurch wirtschaftlich benachteiligt. Mit 29 Bundesstaaten, 23 Amtssprachen und fünf Hauptreligionen ist das Land ohnehin sehr inhomogen. Die Hälfte der Bevölkerung arbeitet als Kleinbauern, die Landwirtschaft macht aber nicht einmal 20% der Gesamtwirtschaft aus. Neun von zehn Arbeitern sind im informellen Sektor beschäftigt und weder gegen Krankheit oder Arbeitsunfälle abgesichert noch haben sie Anspruch auf soziale Leistungen oder Altersversorgung. Sie zahlen auch keine Steuern. Gerade mal 5% aller dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Menschen haben nach Regierungsangaben eine berufliche Qualifikation.
Andererseits leben in diesem Land die meisten Millionäre und Milliardäre weltweit. Spätestens seit einer Studie des Internationalen Währungsfonds aus dem Jahr 2015 aber wissen wir, dass der wachsende Reichtum der Topverdiener das Wirtschaftswachstum verlangsamt, während sich höhere Löhne unter den Geringverdienern positiv auf die gesamte Gesellschaft auswirken.
Die Armutsbekämpfung sowie die Bildungs- und Infrastruktur-Entwicklung sind große Aufgaben, die die hindu-nationalistische Regierung Indiens bewerkstelligen muss, um den Potenzialen des Landes gerecht zu werden. Vor allem beschäftigungsintensive Branchen stehen dabei im Fokus, um schnell viele Arbeitsplätze zu schaffen. Die Textilindustrie wird als Hoffnungsträger betrachtet. So steht Indien in der globalen Produktion von Baumwolle, Seide und Jute weltweit an zweiter Stelle. Auch in Bezug auf die Anzahl der Spinnereibetriebe ist das Land auf Platz zwei. Jeweils nach – wie sollte es anders sein – China. Immerhin: Bei der Zahl der Webereien haben sie den großen Konkurrenten schon überholt. (...)
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